2008-04-23
Tarnen und Täuschen:
Der Kampf gegen die Prototypen-Paparazzi
Von Fishies,
Flimmies und der Kunst, verwechselt zu werden
Rüsselsheim. Tarnen und Täuschen ist Trumpf, wenn
Prototypen neuer Modelle zum ersten Mal aus den streng
abgeschirmten Designstudios und Werkstätten auf
Versuchsstrecken oder in die freie Wildbahn rollen. Denn
heute kann zwar ein wachsender Teil der Erprobung durch
Computersimulation vorweg genommen oder auf dem
Prüfstand nachgestellt werden. Zur Validierung aller
Laborergebnisse aber kommt unweigerlich der Tag, an dem
Autos in ihr natürliches Habitat entlassen werden müssen
- die Straße.
Beim Insignia, dem neuen Mittelklasse-Opel, der am 22.
Juli seine Weltpremiere feiert, war dies vor rund Zwei
Jahren der Fall: Die erste Testfahrt auf der
Nürburg-Nordschleife stand an. Auf diesen Tag hatten
sich die Camouflage-Experten bei Opel monatelang
besonders akribisch vorbereitet. Denn mit einer höchst
attraktiven, völlig neuen Karosserielinie soll der
Nachfolger des Vectra für einen überraschenden neuen
Auftritt in der Mittelklasse stehen. Und Überraschungen
können nur gelingen, wenn sie nicht vorzeitig bekannt
werden.
Bereits als vom neuen Modell nur Computersimulationen
oder Tonmodelle in der Designabteilung existierten,
begann das für die Tarnung der Prototypen zuständige
Team in der Versuchsplanung mit seinen Vorbereitungen.
Zusammen mit Chefdesigner und Chefingenieur legte es
fest, welche charakteristischen Linien des Autos den
neugierigen Blicken der Prototypen-Jäger besonders lange
verborgen bleiben sollten.
Dafür entwickelten sie ein „Facelift“ für das kommende
Modell, das die Prototypen möglichst perfekt
verunstaltet. So hat eine Variante des Neulings zum
Beispiel ein besonders elegant fließendes Heck. Prompt
wurde ein ausladender Heckspoiler konstruiert. Zur
Produktion des Tarn-Teils, immerhin müssen bis zu 200
Versuchswagen bis zum Beginn der Produktion damit
camouflagiert werden, wurde ein Holzmodell gebaut, aus
dem danach ein Spritzwerkzeug für Kunststoffteile
entstand. Auch für andere charakteristische Teile der
Karosserie wurden nach dem gleichen Verfahren
Abdeckungen entworfen und gefertigt. Wie immer wurden
die ersten Prototypen in eine Werkstatt in einem
besonders geschützten Teil des Werkes gebracht. Dort
begann die Verunstaltung der ersten Versuchswagen.
Das
erste „Facelift“ sollte den Insignia so hässlich wie
möglich machen
Angebracht wird dieser Teil der Tarnung mit
Spezialkleber, für eine glatte Oberfläche sorgen
Spezialfolien, die zwischen minus 40 und plus 70 Grad
Celsius elastisch und reißfest bleiben. An anderen
Stellen werden die Folien mit Schaumstoffteilen
unterfüttert, um Konturen zu verändern. Auch zur Tarnung
von charakteristischen Fensterlinien wird auf das
Klebematerial zurückgegriffen. Solche Folien verwendet
auch die Polizei zur Kennzeichnung der Streifenwagen –
allerdings in Grün oder Blau und nicht in
Erlkönig-Schwarz.
Weitere Flächen der Prototypen-Karosserie bekommen zum
Verwischen der Konturen eine möglichst kontraststarke,
kleinteilige Beklebung. Jahrelang regierte hier bei Opel
ein schwarzweißes Schachbrettmuster. Es wurde abgelöst
von so genannten Fischies, fischförmigen gerundeten
Rauten, die Fotoobjektive und Augen noch mehr verwirren.
Noch besser sollen das künftig die Flimmies® können,
deren Muster einen flimmernden Eindruck hervorruft.
Wo
Opel draufsteht, ist ganz sicher nicht Opel drin
Zu beliebten Tricks im Verwirrspiel des
Camouflagebusiness gehören auch „falsche“ Marken- und
Kennzeichen. So kann man ziemlich sicher sein, dass ein
Prototyp mit einem blitzartigen Markensymbol und
GG-Kennzeichen mit großer Wahrscheinlichkeit kein Opel
ist.
Besonders schwierig sind Scheinwerfer und Rückleuchten
zu tarnen. Denn einerseits sind diese heute eine
beliebte Spielwiese der Designer, um Autos leicht
wiedererkennbare Merkmale mit zu geben. Was ihre
Verhüllung besonders wichtig macht. Anderseits reden
hier die Zulassungsbehörden mit. Denn diese schreiben
vor, dass Lichtkegel, Bremsleuchten und alle anderen
Funktionsteile der Außenhaut auch bei Prototypen den
gesetzlichen Bestimmungen entsprechen müssen. So
behelfen sich die Tarner am Heck mit einfachen runden
Leuchten aus dem Zubehörhandel, während für die
Frontscheinwerfer gesonderte Teile angefertigt werden.
Ein weiteres Hindernis für ungehemmtes Versteckspiel mit
den Versuchswagen ist die Notwendigkeit, diese bei
Bedarf auch wieder enttarnen zu können. Denn für
bestimmte Versuche, etwa der Akustiker oder
Aerodynamiker, sind alle Anbauteile hinderlich -
Sicherheit hin oder her. Daher setzen manche
Autohersteller auf große Schürzen, die mit Klettbändern
und Verzurrgurten an der Karosserie befestigt werden.
Für Opel nicht unbedingt die beste Lösung: Denn allzu
leicht macht sich ein solches Teil bei schneller Fahrt
selbstständig und gefährdet damit nicht nur die Tarnung,
sondern auch den Verkehr.
Der
Mensch ist das größte Hindernis für perfekte
Täuschungsmanöver
Denn das ist die größte Schwachstelle aller
Täuschungsmanöver: Die mit den Versuchswagen befassten
Techniker. Fehler passieren, wo immer Menschen tätig
sind, und nach dem Ende eines anstrengenden
Werkstatttages besteht die Gefahr, dass eine solche
Persenning nicht korrekt befestigt wird.
Um Nachlässigkeiten der Testfahrer und Ingenieure
möglichst auszuschließen, gibt es Opel-intern ein
striktes Regelwerk, wie mit Prototypen umzugehen ist.
Diese Richtlinie 531 bestimmt zum Beispiel, dass mit
einem getarnten Versuchswagen keinesfalls auf
öffentlichen Plätzen anzuhalten ist, etwa um den kleinen
Hunger zwischendurch an einem Schnellimbiss zu stillen.
Auch ist stets eine Abdeckplane im Fahrzeug mitzuführen
- auch Opel der Zuverlässige neigt gelegentlich zu einer
Panne, wenn er noch im Versuchsstadium ist, und muss
dann dringend komplett verhüllt werden. Zum Schutz der
Werkgeheimnisse werden die Prototypen auf öffentlichen
Straßen auch stets von einem zweiten Fahrzeug begleitet,
damit Hilfe nah ist, wenn Hilfe gebraucht wird. Für
größere Transportstrecken, etwa zu Versuchsfahrten in
Finnland, sind die Prototypen in geschlossenen Lastwagen
zu transportieren. Allzu häufig wurde früher von
findigen Fotografen mal eben schnell die Plane gelupft,
während der Lastwagenfahrer eine wohl verdiente Pause
machte.
Und wozu das alles? Von neuen Autos lebt, um neue Autos
dreht sich alles in der Automobilindustrie. Für zwei
Interessengruppen sind Neuigkeiten über geplante
Produkte von besonderem Interesse: Wettbewerber und
Medien. Wollen die einen auf Neuheiten möglichst schnell
mit eigenen Innovationen reagieren, ist für die anderen
der Nachrichtenwert der Neuigkeiten ein bewährtes
Mittel, um Konsumenten zum eigenen Medium zu locken.
Wesentliches Erkennungsmerkmal neuer Autos ist ihre
Außenhaut, das Design. Es setzt die entscheidenden
Kaufimpulse bei den Konsumenten, es bestimmt den
Auftritt einer Marke in der Öffentlichkeit - und es
lässt häufig auch Rückschlüsse auf unter dem Blech
verborgene technologische Neuerungen zu. Frische
Karosserieformen vor fremden Blicken zu schützen ist
daher in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Kunstform
der ganz besonderen Art in den Entwicklungsabteilungen
der Automobilhersteller gereift.
Erlkönig-Jäger sind der natürliche Feind aller
Tarnexperten
Hauptgegner sind spezialisierte Fotografen, in
Deutschland nach dem Objekt ihrer Begierde
Erlkönig-Jäger genannt, im englischen Sprachgebrauch
prosaisch Foto-Spione gerufen. Die Prototypen-Paparazzi
wissen ziemlich genau, wo zwischen Nordkap und
Nürburgring-Nordschleife, zwischen Arizona und Afrika
die bevorzugten Erprobungsstrecken der Autoindustrie
liegen. Konkurrenz bekommen sie zunehmend von Amateuren,
die mit ihrem Fotohandy einen Zufallstreffer knipsen -
oder eben auch nicht: Da landet auf den
Redaktionstischen manches Bild eines Serienproduktes,
das sich nur dadurch auszeichnet, dass es auf dem
Heimatmarkt des Fotografen nicht verkauft wird und daher
exotisch und geheimnisvoll erscheint.
Professionelle Bilder geheimer Erprobungsfahrzeuge
dagegen erzielen, je nach Marke, Zeitpunkt und Qualität
der Bilder, einen fünfstelligen Preis. Und beschäftigen
einen eigenen, kleinen und feinen Berufstand: die
Enttarner. Früher setzten gelernte Designer die Fotos
der getarnten Prototypen künstlerisch mit Buntstift und
Tusche in häufig sehr genau zutreffende Bilder der
Neuheiten um. Heute sind es Photoshop-Retuscheure, die
versuchen, ein realistisches Neuheitenbild zu
erschaffen. Hinweise geben ihnen dabei nicht nur die
Erlkönigfotos, sondern auch die so genannten
Designstudien, mit denen die Autowerke auf Messen den
Geschmack des Publikums testen und gleichzeitig den
Appetit anregen wollen.
Auch diese Studien würden die Prototypen-Schützer am
liebsten tarnen. Aber man lässt sie einfach nicht.

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